Veröffentlicht am Kategorien 1. Bundesliga, 2020, Allgemein, Spieltag

Deutschland – ein Wintermärchen?

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(opa) Mit dem Titel von Heinrich Heines umstrittenen Epos geht es passend zum herbstlichen Wetter in den Spieltag der Nations League mit Gassenhauern wie Liechtenstein gegen Gibraltar oder Faröer gegen Lettland. Auch Andorra gegen Malta oder Estland gegen Nordmazedonien klingt nach ruhmreichen Zeiten, in denen man voller Spannung die Nase am Bildschirm plattdrückte, bis man ermahnt wurde, man solle da nicht so nah davor sitzen, weil sonst die Augen viereckig würden. Diese Vorhersage traf nicht zu, dafür aber die, dass man den Bauch nicht rausstrecken solle, weil das sonst so bliebe. Hätte man doch nur auf die Älteren gehört 😉

So wie Heine sich mit seiner Zerrissenheit und seinem ambivalenten Verhältnis zum Vaterland literarisch abmühte, so schwierig ist auch das Verhältnis vieler Fans zum eigenen Nationalteam. Zu viel Kommerz wie z.B. die zwischenzeitlich zwingende Mitgliedschaft im Coca-Cola-Fanclub, wenn man an Karten kommen möchte, ist das eine. Ein anderer Faktor dürfte sein, dass seit 2014 außer dem unwichtigen Confedcup, den man zudem mit einer B-Elf holte, kein wichtiger Titel mehr gewonnen wurde und man sich bei der letzten WM ziemlich arg blamiert hat.

Und dann könnte da noch eine als taktische Beliebigkeit empfundene Tatsache eine Rolle spielen, mit der junge Menschen sich beim Übergang vom Jugend- zum Männerfußball für eine Nationalmannschaft optieren müssen. Und dann nicht weit entfernt sind vom Vorwurf der “Vaterlandslosigkeit”, womit schon Heine konfrontiert war. Özil wurde einst deswegen gnadenlos von türkischen Fans ausgepfiffen, bis er dann vom deutschen Publikum Gegenwind für seine umstrittenen Fotos mit Erdogan und dem “unglücklichen Umgang” damit bekam.

Und so könnte Heine quasi als früher Dichter des aktuellen Deutschlands und der aktuellen Nationalmannschaft gelten. Wobei nach Heine im Gegensatz zum Bundesjogi wenigstens Straßen, Plätze und Schulen benannt sind. Bei Jogi scheint jetzt bereits festzustehen, dass er den richtigen Moment zum Abschiednehmen verpasst haben dürfte. Auch seine umstrittene Personalpolitik wirkt bisweilen unglücklich und wurde ihm so lange verziehen, wie er Erfolg hatte. Erschwerend kommt hinzu, dass man im Drumherum den Eindruck einer unbelehrbaren Wagenburgmentalität gewinnen kann, die notwendige Innovationen behindert statt fördert.

Eine Parallele, die einige auch bei Hertha identifizieren. Wobei heute am Geburtstag des designierten “Geschäftsführerführer” ein Silberstreif am Horizont erscheint, von dem niemand weiß, wie er so drauf ist, außer, dass er Fan von Abomodellen zu sein scheint. Mal gucken, wann man im Stadion die Pausenbratwurst nur noch bekommt, nachdem man eine Dauerkarte zum dauerhaften Erwerb von Schlachterzeugnissen abgeschlossen hat. Und kündigen muss, damit sie nicht deutlich teurer wird. Verrückte Zeiten führen bisweilen zu verrückten Ideen.

Kontrovers habt ihr gestern auch über Ängste, Empfindungen und Meinungen im Pandemiekontext diskutiert. Nicht wenige haben in den letzten Monaten ein rigoroses Unterbinden solcher Diskussionen gefordert, es ginge hier schließlich um Fußball. Ich habe immer gesagt, hier ist der Ort, an dem man auch kontrovers diskutieren können soll und ich maße mir von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht an, darüber zu entscheiden, was nun richtig oder falsch gemeint sein soll. Heine hätte hier auch schreiben dürfen. Und sich vermutlich wohl gefühlt. Auch wenn das “gesunde Volksempfinden” sich in seiner Beurteilung mehrfach geirrt haben dürfte und er ganz sicher posthum von den falschen vereinnahmt und glorifiziert wurde. Jeder soll hier den Freiraum haben, eine Momentaufnahme seiner Meinung schreiben zu dürfen, jeder darf sich hier auch irren. “Richtig oder falsch” ist bisweilen ein volatiler Maßstab.

Heine hatte in jedem Fall Potential, Herthaner gewesen zu sein, wenn die Brüderpaare Lindner & Lorenz unseren Verein ein paar Jahrzehnte früher gegründet hätten. Zumindest wäre Heine sicher Fußballfan gewesen, denn diese Sportart musste sich gegen erheblichen Widerstand der Sportelite und gegen allerlei Vorbehalte des “Volksempfindens” durchsetzen, welches lieber gesehen hätte, dass sich die Buben zur Vorbereitung ihrer späteren soldatischen Karriere als Turner verdingen. Mehrheitsmeinung muss nicht zwingend immer richtig sein.

Es lohnt sich also, sich zwecks eigenem Erkenntnisgewinn mit Andersdenkenden und Andersfühlenden auseinanderzusetzen. Mit Heine, mit Herthanern und mit Fans von Jogifußball. Diskussionsfreudig seid ihr auf jeden Fall, wie die Kommentaranzahl der letzten Tage verrät. Und wenn heute Abend in Kiew, der Stadt, die 778 Tage unter Deutscher Besatzung war und danach 80 % weniger Bevölkerung hatte, der Ball rollt, geht das Diskutieren sicher weiter. Nicht nur wegen eines umstrittenen Bundestrainers, nicht nur wegen des Herbstwetters, nicht nur wegen steigender Infektionszahlen, nicht nur wegen des Umgangs mit Zuschauern in den Stadien, sondern, weil wir uns immer etwas zu erzählen haben und wir das als Bereicherung betrachten sollten. Auch dann, wenn es mal nicht um Fußball oder Hertha geht.

HaHoHe, Euer Opa

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