Veröffentlicht am Kategorien 2. Bundesliga, 2023, Allgemein, Spieltag

Ein Mann sieht rot

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(opa) Der zehnte Spieltag war früher mal ein Zeitpunkt, zu dem ein erstes Fazit der Saison gezogen wurde. Die Fakten sind Platz 11, 12 Punkte, vier Siege, 6 Niederlagen, 19:19 Tore, 7-8 Punkte Rückstand auf die Aufstiegszone, 5-6 Punkte auf die Abstiegszone. Angesichts des holprigen Starts ist man also durchaus noch “auf Tuchfühlung”, das gestrige Spiel wirft allerdings viele Fragen auf, wie man es konkret schaffen will, den Abstand nach oben zu verkürzen. Zwar legte Hertha gestern gegen grippegeschwächte Nürnberger passabel los, zog sich aber nach dem frühen 0:1 in der 15. Minute weitgehend aus dem Spielbetrieb zurück und versuchte, das Ergebnis zu verwalten.

Schon in Halbzeit 1 bettelte man regelrecht um den Ausgleich (den Ernst mit einem gehaltenen Elfmeter verhinderte), da man unverändert von Auf- wie Einstellung aus der Kabine kam, gelang Nürnberg nach 12 Minuten der zweiten Hälfte der durchaus verdiente Ausgleich. Sechs Minuten später reagierte Trainer Dardai und brachte Winkler für Zeefuik und Bence Dardai für Prevljak, ohne, dass sich an den Problemen im Spielaufbau etwas änderte. Weiterhin wusste man nicht, wie man aus der eigenen Hälfte kommen wollte, das sog. Mittelfeld fiel lediglich durch Ottl-Gedächtnispässe auf (von denen einer zur roten Karte von Kempf führte) und der bisher als verlässlicher Flügel agierende Reese war von den Nürnbergern aus dem Spiel genommen worden. Dardais Taktik ist längst von seinen Amtskollegen decodiert, eine Reaktion darauf zeigt er nicht.

Die etwas unglückliche rote Karte gegen Kempf war dann der endgültige Wendepunkt, der Herthas Bemühungen brach, wenigstens einen Punkt mitzunehmen. Was folgte war Unordnung und der sonst bärenstarke Kapitän Leistner schob beim Versuch, eine nicht verhinderte Flanke zu verteidigen, den Ball ins eigene Tor. Nach der roten Karte für die Nürnberger reagierte deren Trainer im Gegensatz zu Dardai und opferte den bis dahin ziemlich auffälligen Goller, doch Hertha war zu diesem Zeitpunkt schon wehrlos und kassierte sechs Minuten vor Schluss das 3:1. Der Deckel war drauf auf dem Spiel.

Nach dem Spiel gelobte Trainer Dardai zwar einerseits, dass er die Fehler zwar zuerst bei sich suche…

„Die 1:0-Führung war unverdient. Acht Spieler haben nicht mal die Form gezeigt, für die ein Punkt verdient gewesen wäre. Sie haben nicht mal 70 Prozent ihrer Qualität abgerufen. Ich muss mich selbst hinterfragen: Wie haben wir die Woche trainiert? Wir waren nicht richtig fit.“

Dardai im Interview nach dem Spiel

…doch schon diese Kritik zielte erkennbar in Richtung seiner Spieler und gibt ebenso wie die Reaktion von Kempf nach seinem Platzverweis, als er auf seinen Mitspieler Bouchalakis schimpfte wie ein Rohrspatz, einen Fingerzeig auf das Binnenklima im Team. Kapitän Leistner wurde da deutlicher und sagte…

„Einige Spieler sind nicht an ihr Leistungsniveau gekommen. Einige sind in totale Lethargie verfallen. So kannst du hier nicht auftreten.“

Kapitän Leistner im Interview nach dem Spiel (Quelle s.o.)

…was doch weitere Fragen aufwirft, wo denn die Probleme des Teams liegen. Ist es wie der Trainer sagt, dass die Spieler nicht “richtig fit” seien oder ist es ein mentales Problem mit der Einstellung? Und welche Rolle spielt die taktische Vorgabe und Aufstellung des Trainers dabei? Marton Dardai läuft quasi immer auf, sogar dann, wenn er erkennbar nicht fit ist und wie seit Wochen eher schwach spielt. Wie will man da Leistung von den anderen erwarten, sich reinzuhängen und die extra Meile zu gehen?

Klar ist Herthas Mittelfeld durchaus dünn besetzt, aber es ist eben nicht so, dass es keine Alternativen gäbe und wenn Dardai es ernst meint, dass seine Söhne es besonders schwer unter ihm hätten, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, das unter Beweis zu stellen.

Verschärfend kommt hinzu, dass die Nürnberger Mannschaft grippebedingt 12 Ausfälle zu verzeichnen hatte und mit einer Art Rumpfelf auflief, die Hertha von der Papierform her locker hätte im Griff haben müssen. Hätte man auch gekonnt, wie die erste Viertelstunde gezeigt hat, doch dann kam dieser ominöse Einbruch, der eben die Frage aufwirft, was denn da die taktische Vorgabe seitens des Trainers ist, wenn man in Führung gegangen ist. Bei Spielen, die lange 0:0 stehen, ist dieses Phänomen nicht ganz so stark zu beobachten, da scheinen die Spieler konzentrierter und selbst nach einem späten Rückstand spürt man Aufbäumen.

Bei eigener Führung ist davon nichts zu sehen und das deutet doch recht eindeutig darauf hin, dass die Erklärungsversuche in Sachen mangelnder Fitness entweder von Unkenntnis zeugen oder aber hier bewusst mediale Nebelkerzen gezündet werden, um gar nicht erst Diskussionen aufkommen zu lassen, die ohnehin beinahe unvermeidbar sind, wenn ein Trainer von 10 Spielen 6 verloren hat. Wobei ein Blick an den südöstlichen Stadtrand zeigt, dass Berliner offensichtlich sehr, sehr leidensfähig sind, denn dort ist der Trainer auch nach 8 Pflichtspielniederlagen am Stück immer noch im Amt, was ggf. aber auch an dessen schweizerdeutschen Sprechtempo liegen könnte, welches ihm automatisch etwas mehr Zeit verschafft, sich zu erklären.

Allerdings ist kaum vorstellbar, dass derzeit im Friesenhaus ernsthaft eine Trainerdebatte geführt wird. Das dürfte zum einen daran liegen, dass man die sportliche Lage als ggf. nicht ganz so düster einschätzt, es andererseits ja auch an jeglicher finanziellen Möglichkeit hapert, für eine adäquate Alternative zu sorgen. Und es gibt eben auch reichlich Anzeichen, dass Seilschaften gegenseitiger Abhängigkeiten allzu deutliche und bisweilen notwendige interne Kritik unmöglich machen. Wer einmal Pal Dardai im persönlichen Gespräch widersprochen hat, weiß, dass dies beim knurrigen Ungarn alles andere als auf fruchtbaren Boden fällt und er schnell dazu neigt, unbeherrscht zu werden. Oder anders ausgedrückt, rot zu sehen.

Aber wir Herthaner sind entgegen des Images, welches man uns gern mal anheftet, ja leidensfähig und wir werden auch die dritte Amtszeit von Pal Dardai irgendwie weiter erdulden, auch wenn es sich zunehmend nach Kasteiung anfühlt. Vielleicht geschieht ja ein Wunder und vielleicht sollte Herthas Marketing die zur Erbittung selbigen Wunders die sonst von einigen als erforderlich betrachteten Devotionalien anbieten wie Rosenkränze, Heiligenbildchen, Kerzen, Weihwasser oder Ablassbriefe (z.B. für Kritik am Trainer). Reliquien kann man später nachschieben. Hauptsache es hilft, Hertha wieder in die Spur zu bekommen. Der Kasse dürfte es allemal helfen.

Hosianna, äh, Ha Ho He, Euer Opa

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