Veröffentlicht am Kategorien 2. Bundesliga, 2023, Allgemein, DFB Pokal, Mitgliederversammlung, Transfers

Die neue Realität

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(opa) Gestern gewann die Fußballabteilung eines österreichischen Getränkeherstellers im Olympiastadion den DFB Pokal und die Bilder der jubelnden Anhänger dieses Konstrukts in der ausverkauften Arena regten mich zum Nachdenken an. Man muss anerkennen, dass das durch Gestaltungsmissbrauch in die Bundesliga gelangte Konstrukt aus Leipzig unter den “etablierten” Vereinen angekommen ist. Deshalb wird zwar kein “normaler” Verein daraus, aber die normative Kraft des Faktischen sieht in den Gewinnerlisten für dieses und für letztes Jahr den Dosenclub aus Sachsen. Und als wäre das allein noch nicht bitter genug, hat Hertha auch die Vormachtstellung in Berlin verloren.

Zwar fabuliert die Vereinsführung immer noch, dass man ein paar mehr Mitglieder als der Rivale aus Köpenick hat, aber faktisch ist es so, dass die ihre Ostalgie pflegenden Blechernen nächste Saison in der Champions League spielen, während Hertha noch um die Zweitligalizenz bangt und eine Mission Wiederaufstieg gar nicht erst ausgerufen wird, zumal sie angesichts der desaströsen Kassenlage auch unrealistisch scheint. Die Gründe, wie es dazu kommen konnte, haben wir reichlich diskutiert, seit Jahren gibt Hertha immer deutlich mehr Geld aus als man einnimmt, das geht eben auf Dauer nirgendwo gut, wenn man nicht Staat ist und Geld drucken und Steuern erheben kann.

Um irgendwie zu überleben, greift man in die Giftkiste der “Forfaitierungen” und verkauft alle zukünftigen Einnahmen, um irgendwie noch liquide zu sein, auch wenn das bedeutet, dass man morgen dann nichts mehr hat, mit dem man etwas bezahlen kann, weder Gehälter noch Stadionmiete noch Schulden. Viele Fans interessiert das nicht einmal, die wollen den Fußball rollen sehen, die wollen ihr gewohntes Drumherum nicht verlieren und überblättern alles, was sich rund um das trockene Finanzthema dreht. Irgendwie hat Hertha ja immer Geld aufgetrieben. Doch so schlimm war es noch nie und dürfte es eigentlich auch nicht sein.

Und diese neue Realität, ein synthetischer Kommerzverein, der sportlich das Oly rockt und gleichzeitig ein Stadtrivale, der auf Jahre enteilen wird, ist bei diesen Fans ebenfalls noch nicht angekommen. Man schwelgt in der eigenen Nostalgie, träumt von besseren Zeiten, als die Deutsche Bahn Sponsor war, Marco Pantelic oder Marcelinho das Publikum verzückten, wo man an der Meisterschaft roch, wo man Champions League spielte und dachte, das würde ewig so weitergehen und irgendwo mittendrin das Leistungsprinzip aus den Augen verlor. Im Leistungssport ist bis auf Ausnahmesportarten wie Schießen Stillstand der sichere Tod.

Tot – ein Zustand, an den man sich als Herthafan wohl gewöhnen müssen wird. Die wirklich schlimmen Zeiten stehen uns noch bevor. Jahre- oder Jahrzehntelange Sanierungsrosskur oder Insolvenz mit Neustart im Amateurfußball sind die Perspektiven und man fragt sich, wie man für so einen Verein neue Anhänger gewinnen möchte. Zumal die, die Bundesliga sehen wollen, ohnehin zukünftig dann eben rotweiße Sachen tragen. Wird nicht passieren? Ich erinnere mich zu gut an die Zeiten, als Hertha abstieg und Blauweiß aufstieg und habe keines der Gesichter vergessen, die eiskalt den Verein wechselten. Die kamen zwar wieder zurück, doch erstens dauerte auch das viele Jahre und zweitens muss Hertha dafür erstmal wieder da sein.

Und dennoch gibt es Hoffnung. Denn Hertha, das ist Berlin, nicht immer schön, niemals wirklich reich, niemals wirklich beliebt. Berlin ist schon oft totgesagt gewesen. Ausgebombt im Weltkrieg, Hungerwinter, Blockade, Mauerbau, Teilung, Wiedervereinigung, heute Boomstadt – wenngleich immer noch ohne relevante Privatwirtschaft. Ein Umstand, unter dem auch Hertha zu leiden hat. Wo andernorts regionale Unternehmen einem strauchelnden Club unter die Arme greifen, gähnt in Herthas Kasse weiterhin die Leere. Hertha hat sportlich schlimmere Zeiten überlebt als den Abstieg in die zweite Liga.

Der Abstieg in die Oberliga war sehr viel bitterer, die Zahl der Zuschauer im Oly war äußerst übersichtlich, das Getingel über die Sportplätze Berlins wie den von Tasmania zu Auswärtsspielen war hart. Wer diese Zeiten miterlebt und in dieser Zeit Hertha die Treue gehalten hat, war mit dem Mittelmaß der letzten Jahre happy und der wird auch in der 2. Liga happy sein. Auf diesem Pfeiler wird Hertha immer ruhen können, auch wenn man für Fußballdeutschland oder die Sportstadt Berlin keine Relevanz haben wird. Doch dieses Außenseitertum und diese Underdogrolle kann ja auch anziehend wirken.

Hertha ist tot, es lebe die Hertha! HaHoHe, Euer Opa

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