Veröffentlicht am Kategorien 1. Bundesliga, 2022, Allgemein, Spieltag

Schwalbe oder Sommer?

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(opa) Wer dieser Tage den Fans von Hertha BSC aufs Maul schaute, dürfte mitbekommen haben, dass die aktuelle Situation äußerst unterschiedlich bewertet wird. Da sind die einen, die nach einem ziemlich unstrittig in die Hose gegangenen Saisonauftakt nun den Turnaround sehen hin zu attraktiver und mitreißender Spielweise, die das Publikum auch bei Rückstand verzückt und klatschen lässt, weil die Mannschaft die Moral zeigt, die man so lange vermisst hat. Gegen Frankfurt und gegen Gladbach haben die Fans im Stadion bis zuletzt trotz Rückstand applaudiert und die Mannschaft vorangetrieben und schienen dem Hashtag #gemeinsamhertha echtes Leben einzuhauchen.

Auf der anderen Seite sind diejenigen, die auf äußerst nüchterne Fakten hinweisen. Hertha geht mit einem riesigen Kader von 40 Mann, der obendrein voller Baustellen ist, in die Saison und die Ergebnisse sind überaus mager. Gegen einen Zweitligaaufsteiger im Pokal raus, beim Derby verloren und nun nach drei Spieltagen gerade einmal einen Punkt. Trotz der 374 Mio. € Spritze ist Hertha weiter hochverschuldet und der als Heilsbringer verpflichtete Bobic scheint mehr mit Krisenmanagement beschäftigt als mit Strategie und wenn die Teile des Publikums begeisternde Spielweise nicht bald Früchte trägt, wird auch der Manager in den Krisenmodus wechseln müssen und es werden branchenübliche Kräfte zu wirken beginnen.

Die Baustellen im Kader sind immer noch belastet durch die viel zu teuren Verpflichtungen von Bobics Vorgänger, die als Ersatz geholten und vermeintlichen Mentalitätsspieler scheinen in Teilen aber immer noch nicht so ganz in der Bundesliga und/oder bei Hertha angekommen zu sein. Der mit großem Tamtam und Privatjet eingeflogene Boetius zum Beispiel hat weder Bezug zur Mannschaft noch zum Spiel und wirkt bislang eher wie ein Fremdkörper. Der als wuchtiger Stürmer geholte Kanga erhält weiterhin halbhohe Zuspiele in den Rücken, bei denen würde selbst ein Christiano Ronaldo nicht als Superstar glänzen können.

Überhaupt ist die Chancenverwertung zum Haare raufen, was bei einigen unter uns nur daran scheitert, dass die Natur die Haare vorher hat ausfallen lassen. Der offensiv unglaublich auffällige Lukebakio versemmelt Großchancen und beraubt sich so der Belohnung, Jovetic scheint im Training eher den Schuss neben oder über das Tor zu üben als selbiges zu treffen und auch alle anderen vom Offensivpersonal scheinen zu wenig Zielwasser serviert bekommen zu haben. Was das Publikum da noch mit einem Raunen verzeihen mag, führt zu Druck auf die eigenen Defensivkräfte, deren Fehler meist nicht mit einem Raunen, sondern eher mit geschwollenem Hals und rotem Kopf kommentiert wird.

Gerade die linke Abwehrseite mit Kempf und Mittelstädt machte zuletzt in entscheidenden Situationen entscheidende Fehler, die letztlich die eigene Niederlage oder den Nichtsieg besiegelten. “Defense wins championships” müsste bei Hertha zur Erkenntnis umgemünzt werden, dass mit dieser Verteidigung eher der Abstieg zu “gewinnen” sein dürfte, denn auch Uremovic macht zu viele Fehler, provoziert und lässt sich provozieren und strahlt alles andere als Ruhe und Abgeklärtheit aus und Kenny ist nun auch nicht gerade ein Upgrade zum Oldie Pekarik. Da Boyata aussortiert wurde, stehen nur noch Dardai und Gechter als Ersatz bereit. Fällt da noch jemand aus, dürfte nicht nur Polen offen sein, sondern auch das vom Youngstertorwartteam bewachte Tor, nachdem Routinier Jarstein suspendiert (und wahrscheinlich bald vor die Tür gesetzt) wurde.

Vorn werden keine Tore geschossen, hinten zu viele kassiert, da wird sich auch die noch so schönste Spielweise sehr bald abnutzen. Konditionell bei den Spielern, die irgendwann erst den Glauben an diese Spielweise verlieren dürften und sehr bald und schlussendlich auch beim Publikum, wenn man nicht wenigstens das Minimalziel erreicht, nichts mit dem Abstieg zu tun zu haben. Fußball ist und bleibt eben auch Ergebnissport und auch für die dringend notwendige Sponsoren- und Geldgeberakquise wäre es hilfreich, wenn man einigermaßen sicher frühzeitig mit dem Klassenerhalt kalkulieren könnte, schließlich wird im kommenden Jahr die 40 Mio. € schwere Rückzahlung der Anleihe fällig.

Insofern ist die Frage, ob Hertha sowohl sportlich als auch finanziell nicht der Insolvenz näher ist als der Sanierung. Auch der größte Optimist muss irgendwann erkennen, dass eine Schwalbe nicht nur oft keinen Sommer macht, sondern sich nicht selten als schnöder Mauersegler entpuppt, der im Sturzflug enorme Geschwindigkeiten von 200 km/h erreichen kann, bevor er sich zum Winterquartier südlich des Äquators (oder eben in eine niedrigere Liga) zurückzieht. Mauersegler sind zudem in der Lage “torpide” zu werden, also den Organismus auf ein Minimum herunterzufahren, was mich an den einen oder anderen Auftritt altgedienter Spieler erinnert, deren Wirkungskreis sich oft auf den Mittelkreis beschränkt.

Und noch eine Gemeinsamkeit unserer Hertha mit dem Mauersegler dürfte sein, dass einer der größten natürlichen Feinde eine auf diese Art spezialisierter Parasit ist, den loszuwerden oft nicht einfach ist. Nicht wenige der gerade in Verabschiedung befindlichen Spieler und Funktionäre dürfte sich ihren Abgang fürstlich entlohnen lassen. Dass dieses Geld direkt oder indirekt über uns Zuschauer erbracht werden muss, führt dann schnurstracks zu der Frage, woran man seine eigene Erwartungshaltung kalibrieren sollte. der Preis für DAZN z.B. ist innerhalb weniger Jahre von 9,99 € auf nunmehr 24,99 bzw. 29,99 € gestiegen. Die Qualität dessen, was der eigene Herzensverein dafür an Gegenleistung liefert, dürfte eine deutlich flachere und im Fall von Hertha eine nach unten gerichtete Kurve darstellen.

Dass auch anderswo nicht alles Gold ist, was glänzt und Frankfurt, Leverkusen, Leipzig oder Wolfsburg z.B. auch noch ohne Sieg in der Liga sind, ist da nur ein schwacher Trost, wenn man auf den Kontoauszug schaut und feststellt, dass man immer mehr Geld für ein nicht wirklich besser werdendes Hobby zu zahlen gezwungen wird, wenn man weiter daran teilhaben möchte. Es gibt Momente, da beneide ich all die, die es geschafft haben, aus diesem Fahrgeschäft auszusteigen.

HaHoHe, Euer Opa

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